Ein Brief aus Al'Anfa

- Von Max Rother und Friederike Stein -

Kurzinformation:
Ort: Hauptlager der Söldnertruppe »Sturmbanner« in Grfl. Espen (Weiden)
Zeit: ca. 1024 nBF / 31 Hal
Personen
· Erkomir fa Shantalla, Schwarz- und Heilmagus aus Brabak
· Gafour al´Machtan, Schwarzmagus aus Fasar
· (Sindar Fuxfell, Wirt der Taverne »Fuxxbau«)
· sowie ein unbekannter Geist, Grauwolf Iberius Stardanstein und diverse Rudelführer

Erkomir wachte auf und fühlte sich furchtbar.
Zum einen hatte er ein Gefühl im Mund, als habe er maraskanische Springkäfer gekaut. Nicht, daß er das jemals getan hätte, aber so stellte er es sich vor. Unerfreulich. Und nach allem, was er über maraskanische Lebensformen, zerkaut wie unzerkaut, wußte, in Kürze noch weit unerfreulicher.
   Zum anderen fühlte er sich ausgelaugt wie damals, als er mit dieser Hexe ...
   Außerdem fror er.
   Gafour, du Mistkerl, was hast du mit mir gemacht? – Wieso Gafour? Ach so, ja ...
   Erkomir beging einen Fehler: er öffnete die Augen. Sofort schloß er sie wieder, doch der Lichtstrahl hatte bereits eine der Kreaturen getroffen. Sie hob den schweren Schädel, blickte sich mit kleinen roten Augen um und weckte die anderen. In Erkomirs Kopf erhob sich eine Herde Donnerechsen und setzte sich in Marsch.
   Das andere, was die grausame Morgensonne dem Magus offenbart hatte, war seine unübliche Lagerstatt. Kein muffiger Strohsack, sondern das kurze taunasse Gras nahe des Walls. Nicht in klamme Decken gehüllt, sondern in eine – nicht weniger klamme – Robe.
   Robe? Warum Robe? Hm.
   Erkomir wagte einen zweiten Blick. Eine der Donnerechsen machte einen Satz.
   Früher Morgen. Gras am Wall. Robe. Stab. Stab? Kein Stab!
   Panisch fuhr Erkomir hoch, knallte mit dem Kopf gegen einen Sonnenstrahl und kippte wieder um.
   «Wenn die Lage aussichtslos erscheint, überrasche den Feind.» Erkomir rollte zur Seite, kam auf dem Bauch zu liegen und stemmte sich hoch. Stolz blähte sich vor ihm Al'Anfas Schwarz und Gold am Fahnenmast. Naja, flatterte irgendetwas in der Morgenbrise, und der Mast war sein Stab. Aber immerhin schwarz und gold. Dunkel und golden blinkte auch etwas im Gras. Eine Flasche. Leer. Etwas weiter davon eine zweite, neben etwas größerem Schwarzen. Letzteres wirkte vage menschlich. Nur vage. Es war Gafour.
   Unterm Tritt der Donnerechsen wankte die Welt. Erkomir verzichtete darauf, sich zu erheben, und begab sich auf allen Vieren zu seinem Collegen.

In Gafours Kopf heulte der Wolf - nein, das war kein Wolf, das war eine Donnerechse.
   Augen auf: Erkomir im Gras, Baumwurzel im Rücken, Loch in der Wand. «Verflucht, einer der Weinschläuche war wohl schlecht.» Erkomir stolperte im Krabbeln über eine Flasche und blieb erschöpft liegen. Langsam dämmerte Gafour, was sich zehn Stunden zuvor zugetragen hatte:
   Ein Beilunker Reiter hatte ihm ein Schreiben der Universität Al'Anfa überbracht, die Anerkennung für den erfolgreichen Abschluß des Zweitstudiums. Danach hatte er sich erst einmal einen kleinen Festtrunk gegönnt und dann feiern gehen wollen. Nur mit wem? Der Elf hätte das nicht verstanden, die magieunkundigen Söldner erst recht nicht. Hier ging es um die Akademie in Al'Anfa. Blieb eigentlich nur einer übrig: Erkomir.
   Bevor Gafour auszog, Erkomir ins Unglück zu stürzen, gönnte er sich noch ein paar kräftige Schlucke. Frisch gestärkt war er danach in die Stube gestürmt, in der Erkomir untergebracht war, und hatte dem verdutzten Kollegen das Schreiben vor die Nase auf den Tisch geknallt. «Gafour, mein Bester, meinen Glückwunsch, doch was soll ich damit?» – «Feiern», war Gafours einzige Antwort.
   Also waren die beiden losgezogen und hatten versucht, alles zu plündern, was trinkbar war. Es hatte gar nicht lange gedauert, bis der im Trinken weniger geübte Erkomir den Vorsprung Gafours eingeholt hatte. Und es hatte damit geendet, daß Sindar den Magiern jeweils eine Flasche Wein überließ, um sie wieder loszuwerden. Nur das Warum wollte Gafour nicht mehr recht einfallen.
   «Ob die Wand dabei eine Rolle spielte?» war Gafours letzter Gedanke, bevor ihm ein herabfallendes Blatt wieder in boronseligen (oder eher rahjagefälligen) Schlaf schlug.

Wie ein fallendes Blatt taumelte über Erkomir die Welt und schwebte langsam auf ihn herab. Bevor sie ihn erreichte, warf er sich zur Seite. Sie trudelte an ihm vorbei. Für einen Moment wurde ihm wieder grünschwarz vor Augen.
   Die Donnerechsen blieben stehen und sahen sich nach ihm um. Behutsam sammelte Erkomir seine Gedanken aus dem Grase und taxierte Gafour. Eben war er noch lebendig gewesen. Oder etwas ähnliches.
   Er hielt seinem Collegen die Hand an die Schläfe. Sie pulsierte, bebte. «Donnerechsen», dachte Erkomir.
   Gafour hatte ein Loch in die Welt gestarrt, bevor er wieder umfiel. Oder auf ein Loch in der Welt? Loch ... In der Wand ...
   Richtig, der Brief. Die Feier. Zu zweit. Oder? Sicher zu zweit. Ihm allein ging man schon aus dem Weg, Gafour sicher auch. Ihm und Gafour ... Erkomir konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß all jene, die ihm und Gafour in den letzten Stunden ihrer "Feier" aus dem Weg gegangen waren, überlebensinstinktgemäß und jedenfalls exakt richtig gehandelt hatten.
   Ein Gesicht schwebte ihm vor den inneren, ebenfalls rotgeränderten Augen. Sindars Gesicht. Irgendwo zwischen "boronsdüster-traurig" und "namenlos-entsetzt". Sindar, da war Erkomir sich sicher, hatte ihnen nicht aus dem Weg gehen können. Der Fuxxbau auch nicht.
   Stellte sich die Frage, warum. Also nochmal: Brief – Feiern – losziehen. Hier hörte die Exaktheit der memorierbaren temporären Sequenz auch schon auf. Wohin zuerst – keine Ahnung. Wohin zwischendurch – Fuxxbau und großes Unbekanntes. Wohin zuletzt – ah ja: Fuxxbau. Fuxxbau zum Zweiten. Mindestens.
   An diese Szene konnte Erkomir sich gut erinnern: breitbeinig und -armig hatte Sindar ihnen den Zutritt verwehren wollen. Sein Pech, daß er ausgerechnet Algrid zu Hilfe gerufen hatte. Algrid Angst-vor-allen-Magiern. Sie hatte ihn gesehen, sie hatte Gafour gesehen, sie hatte Schutzzeichen schlagend die Flucht ergriffen. Dann hatte er, Erkomir, den ersten Zauber dieses zauberhaften Abends gesprochen: ‹Bannnnbaladiinnn...› Womit er, stellte Erkomir mit einem Anflug von Stolz fest, die Lehrbuch-These widerlegt hatte, ein Opfer dieses Zaubers führe alle Wünsche aus, die nicht «... seinen moralischen Grundwerten widersprechen oder dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen» würden.
   Später hatte der Wirt dann versucht sich aufzulehnen. Erkomirs ‹Band und Fessel› war natürlich spektakulär danebengegangen. Warum hatte er den auch in Isdira lernen müssen? Jedenfalls hatte er sich ab da selbst von der Theke ausgesperrt. Vielleicht sein Glück, denn Gafour hatte danach noch etliche Gläser irgendwas alleine gekippt, nur um ihn, den Stümper, zu ärgern.
   Ein gekonnter ‹Imperavi Animus› des Fasar-Al'Anfaners hatte dann jeden weiteren Versuch der Insubordination bei Sindar unterbunden. Nicht, daß sie ihm irgendetwas hätten antun wollen oder angetan hätten, aber irgendwer mußte ja schließlich den Wein bringen, den Meskinnes, den ... Erkomir wurde schlecht, und er versuchte sich auf «kühles klares Wasser» zu konzentrieren.
   Kühl, klar ... Tiefe Trauer und Enttäuschung überwallte Erkomir, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Sindar hatte ihnen Weißwein gebracht, natürlich viel zu warm. Gafour hatte sich furchtbar geärgert, aber Erkomir hatte den zitternden Wirt unterm Tisch hervorgeholt und beruhigt (hatte er nicht sogar magisch seine ‹Ängste gelindert› ?), dann hatte er sich auf den Krug Wein konzentriert ... Ach! Nie, nie mehr würde er den wieder schaffen – den mutierten ‹Corpofrigo› !
   Anschließend hatten sie ein wenig mit Illusionen herumgespielt, er, Erkomir zumindest. Hatte Gafour eigentlich mit Feuerbällen oder einem einfachen ‹Flim-Flam› jongliert? Irgendwo da mußten sie auch die «Al'Anfanische Flagge gehißt» haben. An seinem, des Brabakers, Magierstab. Egal.
   Und ob der ‹Sigillus› auf dieser komischen Flasche hielt? Was war das überhaupt für eine gewesen? Sindar hatte nur noch «ohgötter, ohgötter, ohgötter» gejammert und irgendetwas von «Lieblings...» gesagt. Nun, bis zur nächsten Wintersonnenwende sollte sich lieber niemand mehr dieser Flasche nähern, ob Lieblings- oder nicht.
   Dann waren sie in Streit geraten, Gafour und er. Nicht richtig böse, aber der Al'Anfaner hatte begonnen, sich über Erkomir lustig zu machen. Was er überhaupt noch anwenden könne an Zaubern? Ein besserer Feldscher sei er, ach was, ob "besser" sei noch dahingestellt! – Pff! hatte Erkomir dagegengehalten (und nur kurz dem flüchtenden Sindar nachgesehen), seinen ‹Balsam› beherrsche er schließlich! Und ein ‹Pentagramma› sei dieser Tage auch ganz nützlich. – Ja, was! Ob er nicht gleich in die Praioskirche eintreten wolle mit seinem Dämonen-husch-husch-verschwindet-Spruch?! – Pah! Einen Geist würde er ihm immer noch rufen können!
   So war es eine Weile hin und her gegangen. Gafour hatte mehr über die ‹Geisterbeschwörung› erfahren wollen, und irgendwie hatte Erkomir dabei die Formel wirklich gesprochen. Eigentlich nicht weiter schlimm. Vergeudete Astralkraft halt. Wo sollte im Söldnerlager schon ein Geist herkommen? Weingeist vielleicht ... Bis sich dann dieser Nebel manifestiert hatte, genau über Sindars Theke. Armer Sindar. Gut, daß er da schon geflohen war.
   Dann war Gafour durchgedreht. Er, der große Al'Anfaner Schwarzmagus, jedenfalls nunmehr, zweitstudienhalber. Als hätte jemand einen kulminierten ‹Panik› und ‹Horriphobus› auf ihn gesprochen. Nur – irgendwie bewunderte ihn Erkomir – daß er weder rannte noch sich wimmernd unterm Tisch zusammenrollte. Gafour in Panik war ein lebendes magisches Geschütz, das Feuer spie ...
   Es war Erkomir gewesen, der sich unterm Tisch zusammengerollt hatte, bis Gafour der Schreck oder die Kraft ausgegangen war. Der menschenförmige Nebel hatte noch etwas gesagt, da war Erkomir sich sicher. Ob anerkennend, mißbilligend oder einfach zur Information, hatte er nicht verstanden. Erkomir hatte noch versucht, ihn auszutreiben, und festgestellt, daß er nicht einmal mehr einen ‹Klarum Purum› hinbekommen würde. Als selbst der ‹Flim-Flam› nicht mehr klappte, wußte er wenigstens, woher das Kopfweh kam, das ihm unaufhaltsam aus irgendeinem Limbusloch geradewegs in seinen Schädel kroch.
   Arm in Arm, die Flagge schwenkend, waren er und Gafour dann hinausgetorkelt, durch das immer noch schwelende Loch in der Wand. Was mit dem Geist war, wußte Erkomir nicht. Vermutlich hatte er sich vor Langeweile verzogen. Hoffentlich. Armer Sindar.
   Erkomir blickte auf seinen Collegen. Armer Gafour.
   Eine der Donnerechsen in seinem eigenen Schädel hielt an und warf ihm einen Gedanken zu. Vielmehr einen Namen. Iberius. Zwei weitere Namen purzelten nach. Armer ... Erkomir versank in Selbstmitleid.

Keine halbe Stunde und etwa dreieinhalb Eimer kühlen klaren Wassers später ergriffen die Donnerechsen in den nassen Magierschädeln die Flucht, verscheucht von dem weit schlimmeren Donnerwetter, das Grauwolf Iberius Stardanstein, diverse Rudelführer, mindestens ein Magierkollege und womöglich Sindar Fuxfell, Wirt des »Fuxxbaus«, auf die beiden begossenen Magiere hereinprasseln ließen.
   «... und außerdem nehmt ihr am Söldnerturnier in Uhdenberg teil!» brüllte es den beiden Davonschleichenden noch hinterher, bevor langsam, geradezu mitleidig, die Donnerechsen wieder Einzug hielten.