Eine Reise von Zackenberg nach Hengefeldt

Ende Tsa - Anfang Phex 1025 n.B.F. (32 Hal)

Aufbruch im Schnee

Die Morgensonne tauchte den östlichen Horizont in ein zartes Orange. Die zerklüfteten Berge standen schwarz vor dieser sachten Andeutung eines neuen Tages, nur an den Rändern glitzerte der Schnee in Schattierungen aus Gelb und Orange. Die Nacht hatte reichen Schneefall beschert, alles lag unter einer dicken, pulvrigen Schicht.

Erst kurz vor der Mittagsstunde vertrieb die Sonne die Schatten, die den Weg einhüllten, und so bewegten sich die Wanderer durch gleißenden Sonnenschein und glitzernden Schnee.
   Tief im dunklen Wald löste sich rauschend die Schneelast von einem Baum. Die einzigen Geräusche außer ihren knirschenden Schritten. Ein Eichhörnchen beäugte die Menschen neugierig. Sie erklommen einen weiteren Berg, oben angekommen blickten sie in ein schmales Tal, der Wald hatte die Kuppe nicht erreicht, und so lag der Gipfel im Sonnenschein.

Bergnamen

"Das da müßte der Schneekapf sein", begann Ravenor auf einmal, auf einen der höheren Berge deutend, "und der da mit der Steilwand unterm Gipfel der Alvernsspitz. Da drüben die Trullhucke - nein", er zögerte, "eher der runde dort." Vayenne lauschte aufmerksam.

Der Nachmittag schritt voran, die Wärme der Sonne nahm spürbar ab, die Schatten wurden länger, und die Farben verblassten. Kaum merklich veränderte sich die Stimmung, wechselte von weißer Helligkeit in gedämpfte Töne in hellem und hesindigofarbenem Blau. Es wurde kälter. Der Atem gefror am Stoff und Fell der Mäntel.

Unterschlupf

Der Wald lockerte auf, bildete nun einzelne Gruppen aus Koniferen und einzelnen Buchen und Eichen. Etwas abseits des Pfades erkannten die Wanderer eine umgestürzte Fichte, hoch ragte ihr Wurzelstock auf. "Dank Dir, Herrin!" flüsterte die Ifirnja und rief ihren Begleiter, das Nachtlager an den Wurzeln zu bereiten.

Ein Sonnenuntergang

Noch vor der Dämmerung führte Ravenor Vayenne zu einem freien Hang, an dem wohl ein Erdrutsch niedergegangen war und von dem aus sie weite Sicht ins Land hatten. Still lagen der weiße Schnee und schwarze Wald im Abendlicht, golden überhaucht, dann immer leuchtender, als habe jemand ein Herdfeuer entfacht, arangenfarben, rosig und rot glühten Wald und Schnee und die mächtigen Berggipfel in der Ferne, verglommen langsam zu Karmesin und Purpur und verlöschten endlich in kaltem Blaugrau.

Frühlingsboten im Schnee

Der Wald blieb still anderntags. Nur dann und wann zwitscherten kleine Vögel in den Baumkronen über ihnen. Bäche gluckerten durch den Schnee, an geschützten Stellen leuchteten die ersten Frühlingskünder, kleine gelbe Blumen mit grünem Blätterkragen.

Grenzland

An einer solchen Stelle machten sie Rast. "Schwer zu glauben, daß hier irgendwo die Schwarzen Lande anfangen, nicht wahr?" meinte Ravenor nachdenklich. "Ist aber so. Wir könnten uns sogar schon hinter den feindlichen Linien befinden."
   Vayennes Kopf ruckte nach oben. Mit neuer Wachsamkeit blickte sie sich um und rief Iolan an ihre Seite.
   "Unwahrscheinlich hier", beeilte sich Ravenor hinzuzusetzen, "aber möglich. Acht Greifen halten in den Bergen Wacht, aber manchmal fliegen trotzdem Karakils. Ein Wachturm, der heute uns gehört, ist morgen schwarz und übermorgen wieder unserer oder verlassen oder nicht mehr da. Im Gebirge werden aber meist menschliche Truppen eingesetzt - wenn man die noch so nennen will. Wenigstens kämpfen die im Winter genauso ungern wie unsere Leute."

Winterliches Bergland

Sie stapften los. Der Schnee, der während der Nacht gefallen war und auch jetzt unaufhörlich niedersank, hatte ihre Spuren vom Vorabend zugedeckt. Ihr Hund sprang voran, wälzte sich im pulvrigen Weiß und schnappte spielerisch nach einzelnen Flocken.
   Hin und wieder knarrte ein Baum im sachten Wind, ein Rauschen kündete von rutschendem Schnee, und über allem lag das an- und abschwellende Knistern des fallenden Schnees. Ihre knirschenden Schritte wirkten unnatürlich laut, und die weiße Wand des Nebels, die den Wanderern den Blick verwehrten, taten das ihre, Unruhe in den Wanderern zu schüren.
   Hinter dem Nebel zeichnete sich eine mächtige Felswand ab. Wenn er sich richtig erinnere, erklärte Ravenor, müßten sie an ihrem Fuße in das nächste, tiefer gelegene Tal gelangen.

Eine düstere Lichtung

Vor einer Lichtung hielten sie. Die beiden Geweihten schwindelte, Furcht schnürte ihnen den Atem ab. Aus kahlem Boden, den nur wenig Schnee bedeckte, krallte ein verkohlter Baum seine verkrümmten Äste in den Himmel.
   "Dämonenfeuer", zischte der Rondrianer angewidert und zog Vayenne fort. "Schon länger her", knurrte er endlich, als das bedrückende Gefühl nachließ, "wohl in den Kriegsjahren."
   "Dämonenfeuer? Was ist das, unheiliges Feuer, das beschworen werden kann?"
   Der Rondrianer nickte grimmig. "Ja, sowas. An der Trollpforte und in Arvepaß gibt es größere Areale dieser Art. Sie werden wohl 100 Jahre kein Leben tragen, wenn nicht Diener der Tsa und Peraine sie segnen. Möglich, daß das Sphärentor immer noch ein Stück offensteht. Ich habe nicht vor, es auszuprobieren, und ich kann es auch nicht schließen."

Gutes Lager

Tiefer im Wald fanden sie eine freundlichere Lichtung, auf der mehrere Felsen standen. Nahebei entdeckte Ravenor beim Holzschlagen einen Gebirgsbach. Fröhlich gluckerte das Wasser unter der Eisschicht, die an manchen Stellen sogar schon aufgebrochen war.

Bergland im Nebel

Nebel hingen naßkalt zwischen den Bäumen, über den Schneefeldern, dämpften jedes Geräusch und ließen die Welt um die beiden Menschen herum in grauem Nichts enden. Verschneite Felsen und Bäume zogen wie Schildwachen grußlos an ihnen vorbei, in immer bizarreren Rüstungen aus Rauhreif und Eis, je höher der Weg sie führte.

Als sich endlich die Nebel hoben, spannten sich unter der tiefhängenden Decke aus weichem Grau weite verschneite Hänge, und weißbereifte Wälder duckten sich in die Täler und Schluchten.

Später am Tag kam Wind auf, kräuselte die Nebel zu Wolken zusammen und stäubte Schneefahnen von den Bäumen herunter und vom Boden auf.

Frühlingseinbruch

Wenige Tage danach wurde es frühlingswarm. Es wäre angenehm gewesen ohne Schneeflocken und kalten Wind, aber das milde Wetter schmolz den Schnee unter ihren Füßen zu rutschigem Schlamm, und zweimal mußten sie weite Umwege einschlagen, weil Gebirgsbäche unpassierbar waren.

Ein Grenzposten

Endlich kam das erwartete Fort in Sicht. Grobe Holzpalisaden über einem Felshang, ein einziger Wachturm, aus Stein. Vayenne sah nichts Verdächtiges. Sie näherte sich vorsichtig und erkannte erleichtert die Flaggen in darpatischem Rotgelb und rondrianischem Rotweiß.

Ohne Überschwang, aber auch ohne große Verwunderung und insgesamt sehr freundlich wurden die beiden Wanderer im Fort aufgenommen, nachdem sie einige Fragen und Untersuchungen über sich hatten ergehen lassen müssen. In dieser Nacht konnten sie alles an Schlaf nachholen, an dem es ihnen in den letzten Tagen gemangelt hatte.

Reiseplanung

Entschieden riet anderntags die Kommandantin vom ursprünglich geplanten Weg ab; ein Hangrutsch habe den Pfad verschüttet, und auch die Strecke durch die Klamm könne jetzt bei einsetzender Schneeschmelze lebensgefährlich werden. Ein Späher wurde zu Rate gezogen, und nach einigem Hin und Her ein neuer Weg festgelegt.

Frühling

Bald brach die Sonne durch die graue Wolkendecke, und gegen Mittag wanderten sie unter strahlend blauem Himmel über grüne Bergwiesen und durch gelbgrüne Teppiche erster Frühlingsblumen, zwischen denen nur in den Senken noch gleißende Schneeflecke lagen.
   "Es ist unglaublich. Anfang Phex, und Blumen blühen", wunderte sich die Ifirnja, "ist das normal?"
   "Manchmal", erwiderte Ravenor knapp, "und in manchen Tälern. Kann morgen schon anders aussehen."

Hochland

Höher hinauf führte der kaum erkennbare Pfad wieder, wo zwischen flechtenbewachsenen Felsen nur einsame Föhren ihre Wurzeln in den kargen Boden krallten, um dem steten Wind zu trotzen. In schattigen Senken hielt sich der Schnee hier manchmal sogar über Sommer.

Im Schutz übereinandergewürfelter Steinblöcke machten sie Rast. Die Felsen hielten den scharfen Wind ab, und man sah weit über Berghänge und -täler. Schmelzwasser war im kühlen Schatten erstarrt und überzog die Steine hier mit einem glasglatten Panzer, dort hing es in vereisten Tropfen und Kaskaden in die Luft.

Ein verlassenes Dorf

Bald führte der Pfad wieder zu Tal, vorbei an neuen seltsamen Felsformationen.
   [lex8x10.gif]Kolonierndorf", wies Ravenor düster auf Wälle und scheinbar regellose Steinhaufen, "verlassen."
   Steine waren zu Mauern und bienenkorbförmigen Hütten aufgetürmt, dazwischen lag im Schatten noch etwas Schnee, in der Sonne aber sproß das erste frische Gras. Vayenne stolperte über einen rostigen Eisenbeschlag im Schlamm, Ravenor stieß einen zerfledderten Bastschuh beiseite. Neugierig steckte Vayenne ihren Kopf in eine der Hütten. Es war stockdunkel und roch modrig, nahe des Eingangs stand ein zerbrochener Tontopf. Was er enthalten hatte, war nicht zu erkennen.

Wasserwege

Auch der folgende Tag war sonnig und warm, wo der kalte Bergwind nicht blies. Überall gluckerten Rinnsale durch den Wald, fanden zusammen, stauten sich an Steinen und Astwerk und rauschten als Bäche zu Tal.
   Der Weg traf auf eine Klamm, an deren Rand er entlangführte. Unten rauschte und gluckerte es, vereiste Moosvorhänge hingen von den steilen Felswänden.
   "Wenn es trocken ist, sind solche Schluchten gute Wege", bemerkte Ravenor, "aber wehe, es geht ein Regenguß runter oder die Schneeschmelze setzt ein!"

Berggefahr

Der Wald gab den Blick frei auf mächtige Gipfel und schneeige Hänge. Auf einmal stäubte das glitzernde Weiß auf, schoß wolkig zu Tal. Einige Atemzüge später hallte ein Donnern durch die Täler und von Hang zu Hang.
   "Lawine", stellte Ravenor fest.

Ein unheimlicher Ort

Wieder passierten sie ein verlassenes Dorf. Trotz Sonne, Wärme und Vogelgezwitscher wirkten die leeren Fensterhöhlen, verschlossenen Brettertüren und verlassenen Wege zwischen den geduckten Steinhäusern unheimlich und abweisend. Über und neben mancher Tür hing ein Tierschädel, als solle er sie bewachen, oder ein schädelgekrönter Stecken stellte sich einem erwarteten Eindringling in den Weg.

Auf dem Dorfplatz ragte ein dunkler Pfahl auf, schief, als hätten Herbst- und Winterstürme versucht ihn umzuwehen. An seiner Spitze trug er einen Rinderschädel, darunter Schädel von Hunden, Katzen, Vögeln, Rehen und allerlei Kleintieren. Einige waren inzwischen zu Boden gefallen, durch die Augenhöhlen des einen schob sich eine Frühlingsblume.
   Wachsam trat Ravenor an den Pfahl, legte die Hand darauf und verharrte wie im stillen Gebet. "Die Dorfbewohner erhofften sich offenbar Schutz", erklärte er endlich, "ob gegen Dämonen oder gegen die Götter oder gegen irgendwelche Menschen, weiß ich nicht. Gewirkt vermutlich von einem Trollzacker Schamanen. Eher Magie also ..."
   Vayenne war Ravenor wachsam gefolgt. Nun schloß sie kurz die Augen und zog witternd die Luft ein. "Fremd. Ein Gefühl des Eindringens, als gehörten wir nicht hierher", begann sie und drehte sich langsam im Kreis. Sie schauderte. "Laßt uns gehen, das ist ein abweisender Ort."

Höher hinauf

Die Vegetation wurde spärlicher, die Schneefelder mit zunehmender Höhe größer. Sie ließen eine kleine Gruppe verwachsener Zirbelkiefern hinter sich und blickten auf die gleißende Fläche eines steil ansteigenden Schneefeldes. An seinem Ende erhob sich milchig weiß eine schroffe Kalkwand, und in deren Vorsprüngen, Spalten und Abhängen tummelte sich eine Herde Gebirgsböcke.

Winters Rückkehr

Feine Schleier begannen den Himmel zu überziehen, besorgt beobachtete es Vayenne. "Das gibt wieder Schnee", bemerkte sie, "hoffentlich keinen Sturm."

Sie waren noch keine halbe Stunde gelaufen, als der erste Schwarm weißer Flocken aus den jetzt tiefhängenden grauen Wolken wirbelte, und bald stapften sie wieder durch dichtes Schneegestöber, obwohl ihr Weg sie fast stetig bergab geführt hatte.

Ankunft im Trollingsvenn

Jetzt ging es über flaches Heide- und Grasland dahin, das unter der Schneedecke kaum zu erahnen war; schemenhaft tauchten dann und wann krumme Birken, windgebeugte Krüppelkiefern und seltsame Felsformationen aus dem Flockengewimmel auf.
   "Das Trollingsvenn", erklärte Ravenor.

 

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